Verdun, 15. September 2012

 

von Stefan Marx

 


 

Es ist an einem Montag im Winter 1916, genauer der 21. Februar 1916 um 08.10 Uhr.

Alles ist vorbereitet. Die Gesichter der Soldaten sind angespannt, da versucht noch einer einen Scherz, um das flaue Gefühl in der Magengegend zu verdrängen.

In zwei Minuten wird aus 1225 (tausendzweihundertfünfundzwanzig) Geschützen der 5. kaiserlichen Armee, unter der Führung von Kronprinz Wilhelm von Preußen, ein unvorstellbares, neun Stunden anhaltendes Trommelfeuer auf die französischen Stellungen losbrechen. 1225 Geschütze für einen Frontabschnitt von nur 15km!

Um 8.17 Uhr werden die Schallwellen in Trier zu hören sein, um 8.18 Uhr in Saarbrücken, ab 8.12 Uhr klirren in Straßburg die Fensterscheiben und werden noch wochenlang weiter klirren. Um 8.23 wird selbst im über 250km entfernten Paris ein dumpfes Grollen hörbar. So grauenvoll laut ertönt der Geschützlärm, der die Schreie der Verwundeten übertönt.

Ab 13.30 Uhr werden 150 Minenwerfer zusätzlich das Trommelfeuer intensivieren. Um 17.00 Uhr wird die erste Angriffswelle, deutsche Pioniere mit Flammenwerfern, die Gräben verlassen, um dann im Feuer der französischen Maschinengewehre ebenfalls zerhackt zu werden…

Es ist der Beginn der Schlacht um Verdun.

Ils ne passeront pas“. – „Sie werden nicht durchkommen“, so beschwören die französischen Generale ihre Truppen, die verzweifelt versuchen die Stellungen zu halten.

Bis zum Ende der Schlacht im Dezember 1916, werden in dieser Blutmühle des Imperialismus, 317.000 (dreihundertsiebzehntausend) Tote und Millionen Verletzte zu verzeichnen sein….

Wir werden morgen auf den ehemaligen Schlachtfeldern stehen, werden Bilder machen, das mitgebrachte Essen zu uns nehmen, und zwischen den unendlich scheinenden Grabkreuzen, die mit den Namenstafeln und den kleinen Rosen geschmückt sind, unseren Gedanken nachhängen.

Aber werden wir diesen Wahnsinn wirklich erfassen können?

Der Tag der Abreise nach Verdun. (15.09.12)

Wir brechen um 06.30 Uhr auf. Unser Weg führt uns bei Karlsruhe über den Rhein, dann Richtung Hagenau tiefer hinein ins Elsass, diese alte und immer wieder durch großdeutsche Begehrlichkeiten bedrohte, französische Grenzregion. Weiter Richtung Nord-West, vorbei an der Industriestadt Metz, an den lothringischen Kohlegruben, Richtung Paris.

Paris, die Hauptstadt des Erbfeinds und Hauptkonkurrenten um die Vorherrschaft über das europäische Festland. Paris, die Stadt die immer schon die unterschiedlichsten Emotionen und Sehnsüchte, hervorgerufen hat. Dazwischen liegt Verdun mit seinen Befestigungsanlagen, erbaut um unerwünschte „Paris Touristen“ aus dem Osten aufzuhalten.

Um 10.00 Uhr verlassen wir die Autobahn, durchqueren die Altstadt, überfahren die Maas, diesen Fluss, der die Westgrenze des im „Deutschlandlied“ besungenen deutschen Staatsgebietes bilden sollte. Es geht die Maas Anhöhen hinauf, durch die ehemaligen französischen Linien, bis zum „Memorial de Verdun“, ein Museum das den Schlachtenverlauf und die eingesetzten Waffen und Ausrüstungsgegenstände der jeweiligen Soldaten zeigt.

 

Wir beginnen unseren eigentlichen Besuch mit einem Rundgang durch das Memorial, um uns einen ersten Überblick zu verschaffen.

 

Vor dem Gebäude sind Geschütze und Geschosse aufgebaut. Granaten teilweise größer als ein Mensch, mit 190kg Sprengstoffvolumen und einer kilometerlangen Flugbahn. Die Geschützmannschaften die diese Geschosse in Richtung der feindlichen Linien abgefeuert haben, konnten ihre Gegner nicht sehen, haben nicht gewusst was und wen sie getroffen hatten. Konnten nicht wissen, wie viele Witwen und Waisen jede einzelne Granate und Mine hinterlassen hatte.

 

Im inneren des würfelförmigen Gebäudes ist ein Ausschnitt der Schützengräben nachgestellt. Man bekommt einen Eindruck über das Chaos, dass das ständig andauernde Trommelfeuer angerichtet haben muss. 

 

An der Decke sind zwei Kampflugzeuge befestigt. In einer Vitrine sind Prothesen für die Verstümmelten ausgestellt. Betrachtet man die ausgefeilten technischen Details der hier ausgestellten Geschütze, die diffizile Kleinteiligkeit der unterschiedlichen Tötungsmaschinen und Geräte, so erscheinen die Hilfsmittel für das Leben, geradezu lächerlich plump.

Wir verlassen das Memorial und machen uns auf den Weg, zum wohl eindrucksvollsten und zugleich erschreckendsten Monument auf dem ehemaligen Schlachtfeld, dem Ossuaire de Douaumont, dem Beinhaus. Diese Ruhestätte für 130.000 Tote, deren Gebeine man keinen Personen mehr zuordnen kann, und die hier eine letzte und würdige Ruhestätte gefunden haben.

 

Da wir die Entfernungen nicht richtig abschätzen können, fahren wir mit dem Auto.

Unser Weg führt uns linkerhand durch das Dorf Fleury-devant-Douaumont. Obwohl bis auf den letzten Stein zerstört und ohne einen einzigen Einwohner ist, hat Fleury-devant-Douaumont bis heute seinen Status als französische Gemeinde behalten. Der Ort hat eine eigene Postleitzahl, man passiert das Ortseingangsschild aber da ist nichts, nur die von den Granaten umgepflügte Landschaft. Lediglich eine Kapelle wurde auf dem ehem. Ortsgebiet errichtet, an einen Wideraufbau war aufgrund des mit Giftgas und Munition verseuchten Bodens überhaupt nicht zu denken.

Insgesamt sechzehnmal wurde der Ort 1916 erobert, zurückgewonnen und gleich wieder verloren. Fleury-devant-Douaumont war der äußerste Punkt den die deutschen Truppen auf ihrem Vormarsch auf die Stadt Verdun erreichen konnten. Nach dem Krieg wurde dem Ort der Ehrentitel: „Village Mort Pour La France“ verliehen.

Will man das Gelände besichtigen, ist es immer noch ratsam, auf den Wegen zu bleiben, da weiterhin Blindgänger und anderes Kriegsgerät sowie menschliche Knochen zu finden sind. Schilder an den nachgewachsenen Bäumen, machen immer wieder auf die Gefahren aufmerksam.

Nach kurzer Fahrt erreichen wir den Parkplatz vor dem Beinhaus. Es sind an diesem Samstag insgesamt nur wenige Besucher auf dem Gelände unterwegs, der große zentrale Parkplatz vor dem Ossuaire de Douaumont, nahezu leer, was uns sehr entgegenkommt.

Ich habe schon die unterschiedlichsten Gedenkstätten besucht, was mich immer am meisten gestört hat, ist das hektische Gewusel von schwatzenden Menschenmassen, die Würde eines solchen Ortes verkommt zu einer reinen Touristenattraktion. Davon ist an diesem Samstag zum Glück nichts zu spüren.

Das Beinhaus und die ihm vorgelagerten Massengräber mit den Kreuzen werden gegenwärtig gesäubert und renoviert. Die Hundertjahrfeier der Schlacht von Verdun wirft ihre Schatten voraus.

 

Das Beinhaus ist wie ein riesiges Kreuz angelegt, wobei der rechte Kreuzbalken wie ein Pfeil senkrecht und weit sichtbar in den lothringischen Himmel ragt.

Im Inneren befindet sich die Krypta mit den sterblichen Überresten der toten Soldaten. Man kann beim umrunden des Gebäudes durch die kleinen Glasfenster in die einzelnen Kammern sehen. Knochen auf Knochen, ein heilloses Durcheinander. Da grinst einem ein halber Schädel entgegen, dort kleinste Splitter, da ein Oberschenkel, ein Schulterblatt. Im ersten Stock, auf der Krypta liegend, die begehbaren Kreuzbalken, halbrunde mit beigefarbenem Marmor ausgekleidete Röhren. Nahezu jede Marmorplatte trägt einen Namen, ein Geburtsdatum, ein Sterbedatum, den Regimentsnamen oder die Regimentsnummer. Irgendein Knochen unten in der Krypta gehört zum jeweiligen Namen, es ist wie ein gigantisches und gleichzeitig makabres Puzzle, das nie aufgelöst werden wird.

 

Natürlich darf die obligatorische katholische Kapelle nicht fehlen. Wurden die Opfer des Völkerschlachtens doch auch im Namen des Allerhöchsten, und mit seinem Segen versehen aufeinander gehetzt, hat sich die Religion wie selbstverständlich, als gäbe es diese Vorgeschichte nicht, erneut diesmal aber über den Toten, breit gemacht.

Dann besuchen wir das im Erdgeschoss liegende kleine Kino und sehen uns einen kurzen Film über den Schlachtverlauf und die Geschichte des Beinhauses an.

 

Danach steigen wir den Turm hinauf. Ganz oben die Glocke, deren Geläut uns bei unserer Ankunft auf dem Parkplatz in Empfang genommen hat. Je höher wir aufsteigen, umso mehr wird das ganze Ausmaß der Massengräber, durch die kleinen Sehschlitze sichtbar. Oben auf der Plattform angekommen, hat man dann einen recht guten Rundumblick auf einen großen Teil des ehemaligen Schlachtfelds.

Kreuz um Kreuz, Gräberfeld neben Gräberfeld, es ist die schiere Masse die sprachlos und tief betroffen macht. Meinem Sohn entfährt in diesem Zusammenhang ein erschrockenes und überraschtes „Uhi, und Oh je“. 

 


Vom Beinhaus laufen wir über das Hochplateau Thiaumont zu den Überresten des Kampfschutzbunkers P.C. 118. Das Hochplateau bildete eine mögliche Abstiegsstelle hinab in Richtung Verdun Stadt, und war dementsprechend heftig Umkämpft. Hier standen sich die Soldaten auch unmittelbar gegenüber, hier fanden die gefürchteten Grabenkämpfe statt. 

 

Diese 300 Meter Boden wechselten immer wieder den Besitzer, noch heute sind die Einschlagskrater der Granaten sichtbar, auch wenn sich die Natur nach und nach das ihre zurückholt, sind die Narben und Wunden die der Krieg geschlagen hat unverkennbar.

Man muss aufpassen nicht über die überall aus dem Boden ragenden Metallrestezu stolpern.

 


Weiter führt uns unser Weg zum ehemaligen Fort de Douaumont, der größten und wichtigsten Festungsanlage im Befestigungsgürtel um Verdun.

Durch mehrere Volltreffer und unzureichender Besatzung geschwächt, viel das Fort schon bald nach dem Angriff in die Hände der kaiserlichen deutschen Truppen. Es diente im Verlauf der Schlacht um Verdun vor allem als kurzfristiger Ruheort für die im Kampf stehenden deutschen Soldaten.

 

Am frühen Morgen des 8. Mai 1916 kam es durch einen Unfall zur Explosion eines Granaten- und Flammenwerferdepots im Inneren des Forts. Mehrere Hundert deutsche Soldaten kamen ums Leben. Über 600 Leichen konnten nicht geborgen werden und wurden daher kurzerhand in einer Kasematte eingemauert. Bis heute liegen sie dort begraben.

 

Und bis heute werden sie für militaristische Propaganda missbraucht, der Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge hat ein Kreuz vor der Mauer errichtet, und spricht von den „gefallenen Kameraden“. Kein Wort über die Hintergründe, warum sie an dieser Stelle ums Leben kamen, kein Wort findet sich dort über jene, in deren Auftrag sie ihr Leben lassen mussten. Als wäre es das selbstverständlichste aller Dinge, dass deutsche Soldaten in fremder Erde ruhen, und als wäre ihr Tod auch das Ende aller Fragen nach dem Warum.

 


Die letzte Station unserer Reise führte uns zum Bajonettgraben „Tranchée des Baionettes“.

Die Überlieferung berichtet von einem heftigen Feuergefecht am 12. Juni 1916. Eine Einheit des 137. Infanterieregiments, steht völlig isoliert, unter deutschem Artilleriebeschuss der so intensiv ist, dass die Soldaten in ihrem Schützengraben lebendig verschüttet werden.

 

Als einziges Überbleibsel und Hinweis auf Ihre Anwesenheit, ragen die Bajonettspitzen einige Zentimeter aus der Erde. Militärhistorisch ist diese Version umstritten, wahrscheinlicher ist, dass in diesem Graben Tote französische Soldaten mit ihrer Ausrüstung notdürftig begraben wurden, und die Bajonettspitzen zur Markierung der Grabstelle aus dem Graben herausgeragt haben.

 

Die letzten Bilder zeigen Ausschnitte der Schützengräben, die das ganze Gelände ca. fünfzehn Quadratkilometer, durchziehen.

 


Nach einem langen Tag treten wir gegen 17.00 Uhr wieder die Heimreise an. Wir sind müde und still, jeder hängt seinen Gedanken und Eindrücken nach. Ein rechtes Gespräch will nicht mehr aufkommen.

300 Tage dauerte die Schlacht um Verdun. 300 Tage und Nächte grauenvollster Metzelei um ein paar Meter Boden. Am Ende der Kämpfe stehen beide Heere wieder ungefähr auf dem Stand ihrer Ausgangspositionen vom Februar 1916. Es ging dem deutschen Generalstab auch nicht um unmittelbare große Geländegewinne. Es sollten möglichst viele Franzosen und deren Material vernichtet werden, um den Feind so auszubluten, dass die militärische Handlungsfähigkeit des Gegners zum Erliegen kommen musste. Das bei diesem menschenverachtenden Plan auch der Tod von hunderttausenden eigenen Landsleuten billigend einkalkuliert wurde spricht Bände, und überführt alles Geschwätz der Herren Generale von der angeblichen Liebe zum Deutschen Volk und zum Deutschen Vaterland der Lüge.

Für mich bedeutet diese Reise in die jüngere deutsch-französische Geschichte, diese Reise auf die ehemaligen Schlachtfelder um Verdun, nicht nachzulassen in der Aufklärung um die Hintergründe dieses imperialistischen Krieges, nicht nachzulassen den heutigen Kriegstreibern in die Arme zu fallen. Der weitere Verlauf des 20. Jahrhunderts brachte von den Opferzahlen und der Brutalität sicher schlimmere und unglaublichere Ereignisse hervor. Zu nennen ist stellvertretend Stalingrad und Auschwitz und Hiroshima.

Dennoch steht Verdun sinnbildlich für die Ursünde des 20. Jahrhunderts, den ungezügelten menschenverachtenden Imperialismus.

Stefan Marx, September 2012

 

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